„Indjen? Wat woll’n Se‘n da?“, wunderte sich ein Taxifahrer am Berliner Hauptbahnhof. Ich stand an der Bushaltestelle und wartete auf den Bus nach Tegel. Das war im März 2014 und ich war zum ersten Mal auf dem Weg in dieses faszinierende Land. Er hatte gesehen, dass ich rauchte, bat mich um Feuer und so unterhielten wir uns ein Weilchen beim gemeinsamen Rauchen. (Darf man heutzutage noch öffentlich zugeben, dass man diesem Laster frönt, oder kickt man sich damit unweigerlich ins Aus?)
Wat also wollte ick in Indjen? Eine gute Frage … und eine lange Geschichte. Mal sehen, ob ich sie kurz und knapp zusammenfassen kann.
Schon als Kind hatte ich eine Vorliebe für Buntes, aufwendig Dekoriertes, Schnörkel und Schnickschnack, Glitzer- und Flitterzeug. In einem früheren Leben muss ich eine Elster gewesen sein. So eine Vorliebe wird natürlich im gesamten Orient – nicht nur Indien – restlos bedient.
Außerdem liebe ich Musik und Tanz in jeder Form und auch hier hatte ich schon immer einen Hang zum Orientalischen. Bis heute konnte ich nicht ergründen, warum meine Hüften immer automatisch anfangen zu schwingen, wenn ich diesen speziellen Sound und die entsprechenden Rhythmen höre. Im Jahr 2007 wollte ich endlich lernen, wie das geht:
Alla Kushnir – Ukraine’s got talent
Also schloss ich mich einer Bauchtanzgruppe an. Natürlich war mir klar, dass ich es zu dieser Perfektion nicht mehr bringen würde, aber der Wunsch, es wenigstens ein bisschen zu können, war vorhanden – und der Bauch auch. Nach einiger Zeit fingen dort plötzlich alle an, über Bollywood zu reden.
Hä? Bollywood?
Bis dahin hatte ich keine Ahnung, dass es sowas wie eine indische Filmindustrie überhaupt gab und dass sie jährlich mehr Filme produzierte als Hollywood. Irgendwann lief dann einer dieser Filme im Fernsehen, in den Hauptrollen natürlich Kajol und Shah Rukh Khan. Damit nahm das Schicksal seinen Lauf. Auf Englisch sagt man „to fall in love“ und genau das passierte mir. Ich rutschte aus und fiel mitten hinein in den bunten Kitsch. Platsch! Ich fiel für Bollywood und den Khan und habe mich bis heute nicht davon erholt.
Mit der Zeit wuchs mein Interesse für das Land immer weiter und damit auch das Bedürfnis, es mit eigenen Augen zu sehen, es „live“ zu erleben. Im März 2014 machte ich schließlich Nägel mit Köpfen und stürzte mich wild entschlossen in das Abenteuer „Indien“.
Mein Reiseziel war nicht das einzig Abenteuerliche an der Sache. Ich zählte knapp 54 Lenze und hatte bis dahin weder einen Flughafen noch ein Flugzeug von innen gesehen! Kann man sich das überhaupt vorstellen heutzutage? Anno 1966 war ich mal mit meinem Papa in einer kleinen Propellermaschine eine Runde über meine Heimatstadt Braunschweig geflogen. Das war es dann auch mit meiner Flugerfahrung.
Ich hatte auch noch nie meinen heimatlichen Kontinent verlassen. Nein, ich war noch nie in der DomRep oder in Tunesien und noch nicht mal auf Mallorca. Die weiteste Reise, die ich bis dato je hinter mich gebracht hatte, führte mich in einem Reisebus nach Lloret de Mar an der spanischen Costa Brava. Das war 1978. Seitdem hatte ich es nur noch bis nach Rimini geschafft.
Und nun wollte ich ganz allein nach Indien?!
Genau genommen wollte ich nicht ganz allein nach Indien. Ein paar Freundinnen hatten ihre Rundreise schon vor längerer Zeit gebucht und schlugen mir vor, wir könnten uns doch Mumbai treffen. Ein wahrhaft verführerischer Gedanke! Ich saß tagelang da und fragte mir Löcher in den Bauch:
Bin ich jetzt komplett durchgeknallt? Habe ich mir das auch wirklich richtig überlegt?“
Ja!
Nein!
Ich weiß nicht!
Habe ich Flugangst? Keine Ahnung! Wie sollte ich das wissen, wenn ich es bisher nie ausprobiert hatte? Die kleine Propellermaschine von damals zählte ja nicht wirklich. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt gerade sechs Jahre alt und habe nicht darüber nachgedacht, dass die Dinger auch herunterfallen können.
Statistisch gesehen ist das Flugzeug das sicherste Verkehrsmittel überhaupt, heißt es, und im Internet fand ich dazu ein paar beruhigende Zahlen. Demnach müsste ein Mensch 67 Jahre ohne Unterbrechung fliegen, um einmal in einen Flugzeugabsturz verwickelt zu werden. Die Chance, mit einem Schiff unterzugehen, ist deutlich größer und die Gefahr, bei einem Autounfall sein Leben zu lassen, erst recht.
Soll ich oder soll ich nicht?
Eine Kollegin, die unter extremer Flugangst litt und nur mithilfe von Beruhigungsmitteln ein Flugzeug betreten konnte, machte mich im Vorfeld mit ihren Erzählungen völlig verrückt. Ich sollte mir unbedingt saure Kaubonbons einpacken, weil der Ohrendruck beim Start so schmerzhaft sei. Okay, dass man bei Start und Landung etwas kauen soll für den Druckausgleich, hatte ich schon gehört. Also besorgte ich mir eine Tüte Maoam und fühlte mich halbwegs gerüstet.
Dann wies sie mich auf das malaysische Flugzeug hin, das eine Woche vor meinem Abflug auf mysteriöse Weise von der Erde verschwunden war. Natürlich hatte ich die Tragödie auch mitbekommen und fand den Gedanken nicht gerade erbaulich. Andererseits, so kalkulierte ich für mich, war damit – statistisch gesehen – die Absturzquote für diesen Monat erfüllt und folglich konnte mir nichts mehr passieren.
Ach ja, und noch etwas Wichtiges: Indien ist schrecklich gefährlich für Frauen, nicht wahr? An jeder Ecke lauern potenzielle Vergewaltiger! Damit ich mich gegen mögliche Angreifer wehren konnte, wollte mir die Kollegin unbedingt eine Dose Pfefferspray mit auf den Weg geben, was ich dann doch für maßlos übertrieben hielt. Zum Glück konnte ich sie von dieser Idee abbringen, indem ich ihr die Liste der im Flieger verbotenen Gegenstände aufzählte. Pfefferspray ist nicht erlaubt, im Koffer nicht und im Handgepäck sowieso nicht.
Zum Thema „Vergewaltigung“ beruhigte mich dann mein Schwiegersohn. Äußerst charmant erklärte er mir, in meinem Alter müsse ich mir darum sicher keine Sorgen mehr machen. Ach so? Na, vielen Dank auch!
Einige Tage später saß ich in meinem Hotel in Delhi beim Frühstück, schlug die Zeitung auf und las auf Seite 2 der Hindustan Times: „51-jährige dänische Touristin von 7 Männern vergewaltigt“, – am helllichten Tag und auf offener Straße. So viel jünger als ich war die Frau ja nun nicht. Ich riss spontan den Artikel aus der Zeitung, um ihn dem ahnungslosen Knaben unter die Nase zu halten, wenn ich wieder zu Hause war. Soviel dazu, lieber Schwiegersohn.
Okay, Flugzeugabsturz hin und Vergewaltigung her: Indien rief mich! Laut und deutlich dröhnte seine Stimme aus meinem iPod. Ich musste ins Land des großen Khan reisen. Ich wollte mein indisches Patenkind in Delhi besuchen und nach Mannat, zum Mekka aller SRK-Fans pilgern, um die heiligen Mauern berühren. Und da ich niemanden fand, der mich begleiten wollte, blieb mir keine andere Wahl, als allein loszuziehen.
Schließlich war ich ein großes Mädchen. Ich konnte mir allein ein Eis kaufen, also konnte ich auch allein nach Indien fliegen. Um auf der sicheren Seite zu sein, buchte ich Hotels der oberen Klasse, bei denen ich davon ausgehen konnte, dass Wasserleitungen und Klimaanlagen funktionieren und das Essen relativ keimfrei war, sodass ich mir nicht sofort meinen europäischen Magen verderben würde.
Indische Taxifahrer sind mit Vorsicht zu genießen, lernte ich von anderen erfahreneren Indienreisenden. Deshalb ließ ich mich als allein reisende Frau lieber mit dem Shuttleservice der Hotels vom Flughafen abholen. Alle in Deutschland überlebenswichtigen, aber in Indien nutzlosen Papiere wie Perso, EC-Karten, Führerschein usw. blieben zu Hause. Ich hatte Kopien meines Reisepasses, meiner Flugtickets und meiner Hotelbuchungen im Koffer, falls mir die Handtasche abhandenkommen sollte. Mein Handy hatte die Telefonnummern der deutschen Botschaften auswendig gelernt und meine Reiseapotheke war gut gefüllt. Ich war durchgeimpft, hatte zwei Flaschen „Anti Brumm“ gegen hinterhältige Mückenattacken am Start und eine Auslandskrankenversicherung, die mich im Notfall nach Hause fliegen würde.
Was sollte also passieren?
Hello India, here I come!
Was dann tatsächlich an wundersamen Dingen während meiner drei Reisen so alles passiert ist, erfahrt ihr in meinen Reisetagebüchern.